Noch wenige Wochen vor ihrem Tod saß Astrid Kirchherr in der Wohnung ihres langjährigen fürsorglichen Freundes, des Hamburger Fotografen Kai-Uwe Franz, und berichtete, als sei es gestern gewesen, von einer Begegnung mit John Lennon. "Er kam zu uns nach Hause, zu meiner Mutter und mir – und erzählte von seinem Liebeskummer."

Kirchherrs Zuhause war damals, so erinnerte sie sich, auch Lennons Zuhause und das der frühen, nein, der frühesten Beatles: Als die Band aus Liverpool noch in Hamburger Clubs vergleichsweise unbehelligt musizierte, war der Kirchherrsche Küchentisch offenbar so etwas wie die gute Stube, in damals schon wilden Zeiten.

Astrid Kirchherr im April 1961 mit Stuart Sutcliffe, den Kirchherr ihre "große Lebensliebe" nannte © Juergen Vollmer/​Popperfoto/​Getty Images

Wie wild die Beatles-Zeiten in Hamburg damals waren, hat vielleicht niemand so eng und als Fotografin künstlerisch so sensibel begleitet wie Astrid Kirchherr. Mehr als ein halbes Jahrhundert später berichtete sie mit leiser Stimme und ganz und gar unprätentiös von "meinen Jungs", als hätten die Mitglieder der einflussreichsten Rockband aller Zeiten noch zur Familie gehört.

Aber hier soll es nicht um die Beatles gehen, sondern um Astrid Kirchherr. Geboren wurde sie 1938 in Hamburg, sie studierte Ende der Fünfzigerjahre an der Meisterschule für Textil, Grafik und Werbung. In der neu gegründeten Fotoklasse der Schule war Reinhart Wolf ihr Dozent, dessen Assistentin sie später wurde.

1960 kam es dann im Kaiserkeller in der Großen Freiheit zu einer für alle Beteiligten wegweisenden Begegnung. In Begleitung ihres damaligen Freundes, des Künstlers Klaus Voormann, traf Kirchherr auf die da aktuellen Mitglieder einer – jedenfalls vergleichsweise – unbekannten, in Hamburg jedoch schon gefeierten Band: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison, Stuart Sutcliffe und Pete Best. Man schloss Freundschaft, Kirchherr wurde zur ersten gewissermaßen offiziellen Fotografin der Beatles. Einige ihrer damaligen Schwarz-Weiß-Fotos wurden zu Ikonen der frühen Beatles-Zeit, und sie sind bis heute Teil des kollektiven fotografischen Gedächtnisses der frühen Sechzigerjahre der Bundesrepublik.

Die Beatles 1960 in Hamburg (aber auf einem Fahrgeschäft aus Hannover), da noch zu fünft © Astrid Kirchherr, Copyright:Ginzburg FineArts

Astrid Kirchherr verliebte sich in den Bassisten (und Maler) Stuart Sutcliffe, die baldige Verlobung markierte einen Wendepunkt in beider Leben: Sutcliffe verließ die Beatles, um mit Kirchherr in deren Elternhaus in der Eimsbütteler Straße zu ziehen, Kirchherr nannte ihn noch viel später ihre "große Lebensliebe". Sutcliffe starb jedoch bereits am 10. April 1962 in Kirchherrs Armen auf dem Weg ins Krankenhaus an einer Gehirnblutung.

Die freundschaftliche Beziehung Kirchherrs zu den inzwischen zu Weltstars werdenden Beatles hielt indes, zumindest noch eine Weile. Im Frühjahr 1963 verbrachten Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr (der mittlerweile Pete Best als Schlagzeuger abgelöst hatte) mit Astrid Kirchherr und Klaus Voormann einen letzten gemeinsamen Urlaub auf Teneriffa. Es war genau der Zeitpunkt, als die Beatles mit From Me To You ihren ersten Nummer-eins-Hit in Großbritannien hatten. Danach explodierte unter dem Eindruck ihrer Musik die Welt – und die Welt der Beatles. Nichts blieb, wie es kurze Zeit zuvor noch gewesen war. Die Kontakte wurden loser.

"Nachdem mein Stuart nicht mehr da gewesen ist", sagte Astrid Kirchherr, "war George mir von allen Beatles der liebste." Dies ist ein Porträt, das Kirchherr im Jahr 1962 von Harrison machte. © Astrid Kirchherr, Copyright:Ginzburg FineArts

Kirchherrs fotografisches Werk wurde damals weltweit gezeigt, sie hatte Ausstellungen in Japan, Australien, den USA und Großbritannien, obwohl sie nach dem Tod Sutcliffes kaum noch fotografierte. 1968 schaffte George Harrison es noch, Kirchherr zu einer Session für sein Soloprojekt Wonderwall Music zu überreden. Das Porträtfoto von Harrison, das auf der Innenhülle des Albums abgedruckt ist, ist eines der letzten bekannten Bilder der Fotografin Astrid Kirchherr.

Ihr fotografisches Schaffen brach da ab, Kirchherr arbeitete fortan unter anderem als Stylistin in der Mode und als Interior Designerin. Ihr Leben und Werk animierte später andere Künstler, so kam etwa im Jahr 1994 der bemerkenswerte Film Backbeat von Iain Softley in die Kinos, der Kirchherrs tragische Beziehung zu Sutcliffe erzählte; sie selbst wirkte als Beraterin an dem Film mit. Der Zeichner Arne Bellstorf widmete der großen Liebesgeschichte im Jahr 2010 schließlich den Comicroman Baby's in Black. The Story of Astrid Kirchherr & Stuart Sutcliffe.

Im Jahr 2011 hat Kirchherr ihr gesamtes Archiv an eine amerikanische Investorenfamilie verkauft, die – gemeinsam mit Kai-Uwe Franz – seither über ihr künstlerisches Erbe wacht. Und es von Zeit zu Zeit an ausgewählten Orten in sorgfältig kuratierten Ausstellungen der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Da sind sie also, die Pilzkopffrisuren, 1962 © Astrid Kirchherr, Copyright:Ginzburg FineArts

Und dann gibt es da noch diese Geschichte, dass Astrid Kirchherr in der frühen Phase den später legendären Look der Beatles erfunden hätte. Genau rekonstruieren lässt sich das naturgemäß nicht mehr. Verschiedene Quellen jedenfalls wollen wissen, dass Kirchherr zunächst Stuart Sutcliffe und dann auch George Harrison in Hamburg die berühmte Pilzkopffrisur verpasst habe, worauf auch Paul McCartney und John Lennon nicht nachstehen wollten – und sich ebenfalls die Haare schön machen ließen. Und zwar von Jürgen Vollmer, der ebenfalls Teil von Astrids Hamburger Clique war.

Ob alles wirklich so war? Einerlei. Einer, der es wissen muss, hat jedenfalls ganz offiziell folgendes zu Protokoll gegeben: "Astrid war diejenige, die unser Image mehr als jeder andere beeinflusste. Sie ließ uns gut aussehen."

Der Mann, der das gesagt hat, lebt schon lange nicht mehr, er starb im Jahr 2001. Seine Witwe aber schickte Kirchherr zu deren Geburtstag immer noch kleine Präsente. Über diesen George Harrison sagte Astrid Kirchherr, kurz bevor sie nach kurzer schwerer Krankheit am 12. Mai im Kreise ihrer engsten Freunde im Alter von 81 Jahren starb: "Nachdem mein Stuart nicht mehr da gewesen ist, war George mir von allen Beatles der liebste."

Astrid Kirchherr, porträtiert vom Hamburger Fotografen Kai-Uwe Franz © Kai-Uwe Franz